Am Ende der langen Reise

Doch im Augenblick des Zusammenbruchs war all dieses Wissen wie von einer Riesenwelle erfasst, weggeschwemmt, untergegangen und ausgelöscht. Es hatte mir die Beine weggehauen und ich lag im Dreck. Die Textstrophe aus dem Hit von Queen, Another one bites the dust schoss mir durch den Kopf. Ich war einer von denen, die auch noch ins Gras beißen mussten. Das erfüllte mich bis in die Zehenspitzen mit Wut, Enttäuschung und Angst.
Auf wen und auf was sollte man noch stolz sein? Sämtliche Gefühle sind erst einmal eingefroren, erstarrt. Wer so vollständig von Angst erfüllt ist, kann nicht lieben, weder sich noch einen anderen. Ein berühmter Film trägt den Titel: Angst fressen Seele auf. Für Krebskranke muss es heißen: Angst fressen Liebe auf.

Diese Art Angst ist kein Gefühl, sondern ein Zustand, ein Zustand jenseits dessen, was man bisher erfahren hat, ohne einen Hinweis oder eine Vorstellung davon, was die Zukunft bringen könnte. Erst wenn man sich dessen bewusst ist und ernsthaft daran arbeitet, diesen Zustand zu überwinden, kann man mit den vielen unbeantworteten und auch unbeantwortet bleibenden Fragen umgehen. Eine solche spezielle Philosophie muss man sich selbst kreieren, weil es sie nicht gibt und dann daraus eine Überlebensstrategie entwickeln. Man kann viele allgemeine Hinweise finden.

Schon so erlauchte Geister wie Lucius Annaeus Seneca (1 vor Chr.) und Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), der selbst schwer krank war, haben intensiv darüber nachgedacht. Nietzsche hat erkannt, dass die Krankheit und die damit verbundenen Belastungen das Leben für den Menschen zu einem Problem machen, weil es dem Kranken eine völlig andere als die gewohnte Lebensführung aufzwingt. Er sieht aber auch die darin liegende Chance, die eigene Existenz mit „anderen Augen“ zu sehen. Ulrich Häusler bezeichnet das in seiner Schrift Baustelle „Leben“ eine Krise. Er sieht diese Krise als Herausforderung, die Wirklichkeit zu verändern.

Das heißt letztlich, unsere Wirklichkeit, unser bisheriges Leben aufzugeben, zumindest den neuen Gegebenheiten anzupassen. Gut gebrüllt, Löwe, dröhnt dann der Kopf, alles Theorie. Mehr nicht. Der Widerstand gegen die erlittene Ungerechtigkeit ist zu stark. Da helfen alle wohlfeilen Sprüche nicht weiter. Alles bleibt viel zu sehr im Abstrakten stecken. Das erreicht einen nicht. Im Abstrakten kann man die notwendigen Hilfen nicht finden. Man erlebt ja selbst eine Abstraktion, die sich in der Abspaltung des versagenden Körpers von der tief getroffenen, beleidigten Seele vollzieht. Da helfen ausschließlich ganz konkrete Leitlinien, Gebrauchsanweisungen, Aufforderungen, dies jetzt und hier zu tun und jenes zu lassen. Die lassen sich letztlich nur aus der eigenen Erfahrung destillieren.

Über die Versuche kluger Mitmenschen, das Leben an sich, das Jetzt, das Sein, die Zeit u.a. wichtige Dinge zu erklären, kann man als an Körper und Seele geschundener und verletzlicher Patient nur mit Kopfschütteln hinweg gehen. Es geht eben nicht darum, die Welt und die menschliche Existenz zu erklären, sondern nur noch darum, herauszufinden, wie man die mit den Therapien verbundenen Strapazen übersteht, den Glauben an sich in dem ambivalenten Zustand zwischen Hoffen und Bangen wieder findet, Angst überwindet und wieder eine Daseinsberechtigung erkennt und das dazu notwendige Selbstwertgefühl entwickelt, auch wenn oder obwohl man von den meisten Mitmenschen längst abgeschrieben wurde.

Hier wird begreifbar, was schon der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr. – 65) in seinem Satz „Philosophia non in verbis, sed in rebus est“ (die Philosophie lehrt, etwas zu tun, nicht zu reden) ausgedrückt hat. Das kann nur gelingen, wenn sich in einem vermeintlich völlig unlogisch ablaufenden Prozess zumindest eine Spur von Logik finden lässt. Einen ersten Anknüpfungspunkt bietet da die Binsenweisheit der Alten: von nichts kommt nichts. Will sagen, es gibt für alles eine Ursache. Und, was vielleicht noch wichtiger ist: ohne eigenes Zutun bewegt sich nichts.
Diesen Satz hörte ich oft von meiner Großmutter väterlicherseits, einer einfachen, aber klugen und herzensguten Frau, die in schwieriger Zeit ihre 7 Kinder mit Bravour großgezogen hatte. Und genau das ist es, was Not tut: wissen, warum alles so gekommen ist, wie es ist. Mit „c’est la vie“ ist es dann nicht mehr getan. Am besten ist es sogar, wenn man Gründe findet, die man selbst zu verantworten hat. Mit der Arbeitshypothese, dass nichts von nichts kommt, macht man sich dann auf die Überprüfung der eigenen Vita. Und es dauert nicht lange, bis man fündig wird. Dadurch wird vieles einfacher. Man hadert nicht mehr mit Gott und der Welt, sondern nur noch mit sich selbst. Für Schuldzuweisungen fehlt es an passenden Adressaten. Das legt den Entschluss nahe, diese Ursachen in Zukunft bei sich abzustellen. Unbewusst unterstellt man damit, dass es weiter geht und schmiedet Pläne für eine Zukunft, für die Zeit danach. Darauf stützt sich Hoffnung. Hoffnung, dass es doch noch nicht zu Ende ist. Und nach und nach wird einem bewusst, dass man doch liebenswerte Seiten hat und nicht alles an einem nur zum Kotzen ist.

Ein Zauberwort dabei kann das Gebot der Nächstenliebe sein. Darin heißt es. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass man auch den Nächsten, also seinen Mitmenschen, seine Frau, seine Kinder nur dann lieben kann, wenn man sich selbst liebt. Mit dieser Liebe ist nicht eine Selbstverliebtheit im Sinne des Narzissmus gemeint, auch nicht Selbstzufriedenheit. Es handelt sich dabei vielmehr das Gefühl, mit sich selbst im Reinen zu sein, um ein Minimum an Selbstachtung und das Empfinden, sich so annehmen zu können und auch zu dürfen, wie man gerade ist. Und am Ende macht sich die Erkenntnis breit, dass man am Ende der langen Reise wieder bei sich selbst ankommt.

Ein Kampf auf Leben und Tod