Eine völlig andere Dimension

Wer sich zunächst nicht mutig oder stark genug für einen Besuch oder ein Telefonat fühlt, der sollte schreiben, was er fühlt und was ihn von einem persönlichen Gespräch abhält. Auch Briefe sind willkommen, kleine Gesten, die zeigen, ich denke an Dich, bauen auf und spenden Trost. Daran denkt man zugegebenermaßen oft erst dann, wenn man schon viel kaputt gemacht hat. Auch darauf will ich hinweisen. Vielleicht hilft es dem einen oder anderen, schon früher zu bedenken, dass er nicht allein die ganze Last zu tragen hat.

Ein Punkt aber liegt mir besonders am Herzen. Wer an Krebs erkrankt, ist auch psychisch schwer verwundet. Deshalb braucht er ganz besonderen Zuspruch und ehrliches Mitgefühl. Wer ihm das verweigert, handelt unverantwortlich, inhuman und macht sich schuldig. Ich weiß sehr genau, dass auch Angehörige, Partner und Freunde ihre großen Probleme mit der neuen Situation haben. Wer aber einen Kranken in einer solchen Situation hängen lässt, sich von ihm abwendet, weil man sich ekelt oder weil er zu nichts mehr zu gebrauchen zu sein scheint, eine Ehe oder Partnerschaft sogar beendet, ist ein Unmensch.

Dies gilt im Übrigen auch für alle anderen Fälle wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder auch Verkehrsunfall, in denen ein Mensch innerhalb von Sekunden aus seinem bisherigen Leben in eine völlig andere Dimension seines Daseins katapultiert wird. Ich habe größten Respekt vor all denen, die den Betroffenen ihre ganze Zuneigung und Liebe auch dann noch erweisen, wenn sie schwer danieder liegen, sie pflegen und ihnen dadurch helfen, wieder an sich selbst zu glauben und das verbliebene Stückchen Leben als noch lebenswert zu erachten. Manchmal können auch Geistliche, die ihren Beruf als Seelsorger/in ernst nehmen, durch ihre Besuche am Krankenbett segensreich wirken.

Und ich weiß heute, dass man als Krebspatient eine besondere Philosophie braucht, um diese existenzielle Lebenskrise durchstehen zu können. Es geht einmal darum, sich klar zu machen, dass unser Leben in Wirklichkeit nicht planbar ist, obwohl wir das immer meinen und es uns von vielen Experten auch stereotyp suggeriert wird.

Wer kennt nicht die vielen Seminare und Bücher, die sich mit der richtigen Planung unserer Karriere als Teil eines erfolgreichen Lebens befassen. Planen ist dabei mehr als nur Pläne schmieden. Planen ist der möglichst detaillierte, quasi-realistische Entwurf eines vollständigen Lebenslaufes, allerdings hier mit dem Schwerpunkt eines beruflichen und gesellschaftlichen Werdegangs. Die Erkrankung mit all ihren gegenwärtigen und künftigen Auswirkungen bedeutet, ob wir wollen oder nicht, den Zeitpunkt eines endgültigen Abschieds von einem Traum. Wohl jeder Mensch hat diesen Traum von seiner Zukunft, dem er seit Kindertagen nachhängt und der im Laufe der Zeit immer mehr Gestalt annimmt, sich zum Teil realisiert, zum Teil geändert werden muss und an dem er mit Blick auf die sich bietenden Zukunftserwartungen fleißig weiterspinnt.

Darin spielen natürlich der Beruf, aber auch Liebe, Partnerschaft, Ehe, Kinder, Haus, Reisen, Hobby, Sport und vieles andere mehr eine wichtige Rolle. Sie sind der Transmissionsriemen, der uns die Energie dafür liefert, diese Erwartungen zu realisieren. Wenn man jung ist, hat man Träume. Denkt an Karriere und pflanzt Bäume, habe ich einmal gedichtet. Das Zerplatzen dieses Traumes bedeutet deshalb zugleich einen massiven Bruch in der Lebensplanung. Das zu begreifen, verlangt eine enorme Kraftanstrengung. Heute weiß ich, dass die Betroffenen Trauerarbeit zu leisten haben. Diese Erkenntnis hat sich, soweit ich das sehen kann, bis heute noch nicht durchgesetzt. Man kennt zwar die Symptome, die von der Diagnose Krebs ausgelöst werden. Man weiß um die Brüche, die sie in der Psyche der Patienten verursacht. Man hat auch einen Begriff dafür.

Fachleute sprechen von einer psychischen Krise. In Heft 3 der Zeitschrift „Zeitwissen“ 2012, S. 114 wird die Professorin für Entwicklungspsychologie Insa Fooken von der Universität Siegen dazu wie folgt zitiert:
„Psychische Krisen unterbrechen den vertrauten Fluss alltäglicher Sicherheiten. Sie werfen Menschen aus der Bahn. Betroffene erleben Trauer, Ohnmacht, Wut, Hoffnungslosigkeit oder reagieren mit Überaktivität oder stummer Verzweiflung. Aber: Krise ist kein Zustand, sondern ein ergebnisoffener Prozess – man kann daran zerbrechen, aber auch gestärkt werden. Das gelingt eher, wenn Menschen versuchen, sich auf bedeutende Lebensziele zu konzentrieren und so ihre Handlungsfähigkeit (wieder-)erlangen. Für manche ist es hilfreich, soziale Zuwendung zu erfahren, für andere, alleine zurechtzukommen oder selbst andere zu unterstützen. Ressourcen und Risiken sind dabei oft ungleich verteilt. Doch: Weitgehend bestimmt der Mensch, ob Krisen sich als Chancen erweisen.“

Durch die Brille einer analytisch denkenden Wissenschaftlerin besehen heißt das: Jeder ist selbst seines Glückes Schmied. Kann er sich am Schopfe packen und aus dem Sumpf oder besser aus den Trümmern seiner Lebensplanung, ja seiner bisherigen Lebenswirklichkeit herausziehen, dann wird er dadurch gestärkt. Wenn nicht, zerbricht er. Aus meinem Blickwinkel heraus betrachtet kann ich dieser These so nicht ohne weiteres zustimmen.

Sein und Nicht-sein