Ein Kampf auf Leben und Tod

Es scheint, als marschiere man, den Blick auf den Horizont gerichtet, immer auf ein sich im Dunst schemenhaft abzeichnendes Ziel konzentriert, ständig im Kreis. Dabei werden die Kreise aber immer enger. Man kommt sich immer näher, ohne sich jedoch zu erreichen. Das ist eine äußerst spannende Erlebnisreise. Man fühlt sich wie einst Abraham, der ein gelobtes Land zwar sehen darf, es jedoch nie erreichen kann. Die Suche nach dem Sinn des Lebens gerät wie die oft kolportierte Anekdote von dem Mann, der stundenlang seine Brille sucht, bis er endlich bemerkt, dass er sie auf seiner Nase sitzen hat.

Die spezielle Philosophie basiert im ersten Schritt auf einer neuen Standortbestimmung, die durch die krankheitsbedingte Verschiebung des eigenen Koordinatensystems erforderlich geworden ist. Sie hilft, Antworten auf die existenziellen Fragen zu finden, die sich immer quälender stellen. Wer bin ich heute, wo und wie habe ich mich verändert, was kann ich noch leisten, welche Rolle kann ich noch in Familie und Beruf spielen, wie geht es wirtschaftlich mit mir und der Familie weiter.

Zu dieser Fragestellung kommt man als Patient aber erst dann, wenn man im Wege der so genannten „radikalen Akzeptanz“ darauf verzichtet, sich gegen die real eingetretene Krise mit ihren Schmerzen und Belastungen aufzulehnen oder sie zu bekämpfen.

Diese dialektisch-behaviorale Therapie hat die amerikanische Therapeutin Prof. Marsha Linehan (geb. 05.05.1943) aus dem spirituellen Ansatz im Zen-Buddhismus entwickelt und an sich selbst getestet.
Es geht also durchaus nach der Zeile, die Johann Strauß in der Operette „Die Fledermaus“ singen lässt: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“ Dadurch wird es möglich, sich auf der zweiten Stufe in kleinen Schritten wieder zurück ins tägliche Leben zukämpfen.

Dazu gehört die Erkenntnis, dass es trotz allem Elend und aller Verzweiflung noch Momente gibt, in denen man richtige Freude empfindet. Solche Momente hat mir meine Frau geschenkt, in dem sie mich im offenen Wagen durch einen sonnigen Tag kutschierte. Das wärmende Licht, der sanfte Fahrtwind in den allmählich wieder nachwachsenden, wenn auch jetzt grauen Haaren, der Geruch von Sommer, das machte den Kopf frei und veranlasste mich, tief durchzuatmen, den Modergeruch aus den Lungen zu pressen. In diesen Augenblicken begann ich wieder zu leben. In mir hatte sich eine Art Katharsis abgespielt. Ich fühlte mich auf eine gewisse Weise gereinigt, hatte den alten, hoffnungslosen Menschen abgeschüttelt, mich gehäutet wie eine Schlange.

Ein anderer dieser kleinen Schritte ist der Wille, die vielen Handicaps, die als Folge der Therapie geblieben sind, zu überwinden, z.B. zu lernen, wie man auch mit fast gefühllosen Fingerspitzen ein Glas festhalten, einen Faden in ein Nadelöhr zu bugsieren, mit Fußheberparese links und ohne Gefühl in den Fußsohlen ohne Krücken zu laufen, die ständigen Darmkoliken als Folge der Bestrahlung zu ertragen und vieles andere mehr.
Und am aller wichtigsten ist es dann, zu lernen, sich über die so erreichten Fortschritte ehrlich zu freuen, Freude zu empfinden darüber, dass man den unsichtbaren, aber außerordentlich starken und hinterhältigen Gegner wieder einmal besiegt hat. Diese Fähigkeit geht während der Krankheit und der Therapien einfach verloren.

Hat man sich auf diese Weise wieder genordet, kann es weiter gehen. Dann findet sich auch die Kraft, Aktivitäten zu entwickeln, sich einer Arbeit zuzuwenden, Techniken zur Entspannung und Schmerzunterdrückung zu erlernen, unter Leute zu gehen, kurzum, wieder am sozialen Leben teilzunehmen. Oder anders gesagt: man lebt wieder. Das ist der Moment, in dem man in ein neues Leben aufbricht, in ein Leben nach dem Tod, post mortem.
Das mag seltsam klingen, in manchen Ohren vielleicht sogar blasphemisch. Aber mit der Wiederauferstehung hat das überhaupt nichts zu tun. Nur in der alten Hülle lebt ein verändertes Wesen. Das ist der Punkt.

Wenn ich das so beschreibe, wird mir gleichzeitig klar, dass das auch nichts zu tun hat mit dem Gefühl, den Tag des Anwachsens des Transplantates als den der zweiten Geburt ansehen zu können oder zu sollen. Wenn man den Krebs nach langen, akut lebensbedrohlichen Phasen überwunden hat, gibt es kein Zurücksetzen des Lebens auf Null, kein, ich beginne von vorn oder noch einmal ganz neu. Wer das glaubt, unterliegt einem schweren Irrtum. Man kann das Überleben einer Krebserkrankung absolut nicht vergleichen mit anderen Fällen einer Rettung aus Lebensgefahr, etwa der Situation eines Menschen, der in den Fluss stürzt, zu ertrinken droht und zum Glück herausgefischt wird.

Aber es gibt eine Rückbesinnung auf alte Tugenden wie Mut und Kampfeslust. Aufgeben, sich ergeben und nur darauf zu warten, dass einem jemand das dürftig glimmende Lebenslicht ausbläst, wäre Feigheit vor dem Feind. Wer will schon ein Deserteur sein? Die Achtung vor sich selbst und seinen Angehörigen endgültig verlieren, nachdem man sich schon so schwach und hilflos gezeigt hat, hat zeigen müssen? Nein. Der entscheidende Moment für den Neubeginn kann man an dem Augenblick festmachen, in dem der irreversible Entschluss fällt: Ich will es mir und allen anderen zeigen. Das wird ein Kampf auf Leben und Tod…

Vom Beten