Seele

Dazu bedarf es zunächst der Klärung, wo Seelsorge im weiteren Sinne ansetzt. Dann steht die Frage an, in welcher Phase seiner Krise befindet sich der Patient. Ich unterscheide drei unterschiedliche Seelenlagen.

  • Phase I: Diagnosestellung und Zusammenbruch
  • Phase II: Therapie
  • Phase III: Zeit nach der Therapie

Alle Phasen haben ihre Besonderheiten und Intensitäten. Deshalb muss die Seelsorge entsprechend darauf abgestimmt sein. Auf das wie und wo aber gibt es keine schnelle und wohlfeile Antwort. Um diese Frage zu beantworten, muss man sich zunächst einmal gründlich mit der alles entscheidenden Frage beschäftigen: was ist Seele?

Platon hat die Seele als Prinzip des Lebens und deshalb als unsterblich beschrieben. Er meint, der Körper wird durch die Seele belebt. Die Seele gehört nach seinem Verständnis zu den „ersten Schöpfungen, noch vor allen Körpern. Rudolf Virchow hat etwas süffisant festgestellt: Ich habe sehr viele Leichen seziert, aber eine Seele habe ich nicht gefunden. Geht man davon aus, dass beim unbelebten, also toten Körper die selbst unsterbliche Seele den Körper verlassen hat, kann man sie auch bei einer Sektion nicht finden.

Nach Immanuel Kant „…ist die Seele ein immaterielles Geisteswesen mit Bewusstsein und Verstand, das mit anderen Seelen kommunizieren und auch als reiner Geist existieren kann. Wir sind eine Seele, wir haben zeitweilig einen Körper.“ Damit meint er, dass wir längst existieren, ehe wir einen Körper bekommen. Ich denke, dass er dem Phänomen „Seele“ damit sehr nahe kommt. Was die moderne Wissenschaft darüber zu sagen weiß, bestätigt ihn. Doch dazu später.

Was ich weiß, ist: wer die Seele sehen will, muss Kindern in die Augen schauen. Da leuchtet sie hervor, glänzend, unverfälscht. Später, mit zunehmendem Alter, verblasst der Glanz, wird stumpf und bricht nur noch dann und wann einmal auf.
Der Begriff „Seele“ geht auf das altgriechische Wort „psyche“ zurück und bedeutet zunächst einmal „Schmetterling“. Es ist aber auch zugleich Synonym für die Begriffe „Hauch“, „Atem“ und eben auch „Seele“.

In der Schöpfungsgeschichte (Genesis) der Bibel wird das Bild eines aus Erde geformten Menschen entworfen, dem der Schöpfer seinen Atem einhaucht und ihn so zum Leben erweckt. Da Gott in allen Religionen für eine höhere Instanz, einen Weltgeist steht, hat man sich offenbar schon früh gedacht, dass diese höhere Instanz über Seelen verfügt, die von Fall zu Fall vergeben werden. Diese Vorstellung deckt sich mit der Auffassung, wonach die Seele längst vor der Entstehung eines Menschen aus der befruchteten Eizelle schon vorhanden ist.

Erst im Augenblick des Todes verlässt die Seele den Körper wieder. Manche Leute behaupten, dass der Körper dabei minimal an Gewicht verliert. Sie meinen deshalb, dass die Seele Masse hat und deshalb auch etwas wiegt. Ob das zutrifft, ist strittig. Abwegig ist es jedenfalls nicht. Wir bestehen aus Zellen, diese aus Atomen und diese aus den Quarks. Materie ist nach allem, was man weiß, ein unendlich kompliziertes System aus elektromagnetischen Wellen. Ein bestimmter Teil dieses chaotischen Pulsierens kann durchaus das sein, was ich mit anderen zusammen als Seele verstehe.

Für die Frage, ob ein Körper noch „beseelt“ ist oder nicht, kommt es offenbar nicht darauf an, ob das Gehirn noch funktioniert. Entscheidend ist vielmehr, ob das Herz noch schlägt und Blut durch die Adern strömt. Für mich ist das Herz der Ort, an dem sich die Seele eines Menschen befindet. Im Herzen spürt man die Freude, den Kummer und vor allem die Liebe. Das internationale Notrufzeichen SOS, das für Save Our Souls (rettet unsere Seelen) steht, kommt da schon sehr nahe an die Wahrheit heran. Mit der Errettung eines Menschen vor dem Tod wird auch dafür gesorgt, dass seine Seele im Körper verbleiben kann.

Neben der Seele ist die Psyche betroffen. Dass Psyche aber nicht gleich Seele zu setzen ist, wird leider nicht immer beachtet. Nach der Definition in Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch stehen „Seele (englisch) soul“ und „Psyche“ für „innere, trotz des Wechsels der Lebensvorgänge gleichbleibende Wesenseinheit des Menschen, die dem unmittelbaren Erleben und der Gesamtheit der geistig-seelischen Funktionen (Fühlen, Denken, Wollen) zugrunde liegt.“

Dabei wird verkannt, dass Fühlen, Denken und Wollen Vorgänge sind, die sich im Gehirn abspielen und „die das Ergebnis von zellulären, biochemischen und elektrischen Prozessen in den Neuronenschaltkreisen des Gehirns sind“, wie der Kölner Neurochirurg Prof. Dr. Volker Sturm ausführt (www.zeit.de/zeit-wissen/2009/06, Die Biologie der Seele). Also geht es um Arbeitsabläufe in einem Organ, nämlich im Gehirn und dem Zentralen Nervensystem. Fällt das Organ teilweise oder ganz aus, sind Fühlen, Denken und Wollen nur noch eingeschränkt möglich oder aber auch erloschen. Dennoch lebt der Mensch und mit ihm seine Seele.

Während sich Seelsorger zumindest zu einem Teil mit dem Seelenschaden befassen, sind die Psychotherapeuten für die angeschlagene Psyche zuständig. „Ist die Psyche krank, sind in erster Linie Psychologen, Psychotherapeuten oder Psychiater gefragt“ schreibt die ApothekenUmschau vom 23.11.2011. Und: es gibt durchaus gute Chancen, psychische Krankheiten erfolgreich zu behandeln. Das rührt wohl daher, „dass Psyche und Körper eine Einheit sind“ (Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Dir. Des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim in ZeitWissen Heft Nr. 4, Juni/Juli 2012, S. 20).

Die Psyche ist nach wohl nach übereinstimmender Ansicht der Fachleute ein nicht-physischer Teil des Menschen wie auch das Bewusstsein, der Geist und die nach meinem Verständnis nicht hierher zu rechnende Seele. Psyche, Bewusstsein und Geist sind in erster Linie Gehirnfunktionen. Der Neurochirurg Prof. Dr. Volker Sturm, Chef der Klinik für Stereotaxie und funktionelle Neurochirurgie in Köln sagt: “Nennen Sie es Seele oder Psyche: Was den Menschen ausmacht, ist das Ergebnis von zellulären, biochemischen und elektrischen Prozessen in den Neuronenschaltkreisen des Gehirns.“ Wie aber die Nervenschaltkreise im Kopf eines Menschen sein Wesen hervorbringen, ist eine der schwierigsten und weithin ungelösten Fragen der Wissenschaft ( so Ulrich Bahnsen, Die Biologie der Seele in www.zeit.de/zeit-wissen/2009/06).

Genau da liegt die Unterscheidung: Die zellulären, biochemischen und elektrischen Prozesse laufen in unserem Gehirn ab. Sie sind organisch erklärbar, zu einem großen Teil vorausberechenbar, zu messen und auch schon zu einem großen Teil sichtbar zu machen. Störungen, die hier auftreten, können deshalb gut diagnostiziert und repariert werden. Dafür ist die Psychotherapie ebenso zuständig wie die Neurochirurgie oder auch die Pharmazie.

Aber das alles erklärt nicht, wie der Mensch zu seinem individuellen Wesen gelangt. Dieses Wesen, das aus ihm herausstrahlt, ihn von innen her er- und ausleuchtet wie eine starke Lichtquelle, das sich in Gesten, Haltung, Sprache ausdrückt, ihn einzigartig und unverwechselbar macht und das von allen anderen Menschen bei einer Begegnung innerhalb von Bruchteilen von Sekunden als solches erkannt wird.

Dass dieses Wesen auch etwas mit Würde zu tun hat, ist für mich vollkommen klar. So lange ein Mensch lebt, ist sein Körper die Wohnstätte einer Seele, die sein Wesen ausmacht. So lange behält er auch seine Würde. Diese haben wir zu respektieren, zu beachten und, falls erforderlich, auch zu schützen.

Angst und Verlust