Sein und Nicht-sein

Ich weiß, dass ich ab Diagnose Krebs nur noch eingeschränkt bestimmen konnte, wie es mit mir weitergeht. Der Arbeitgeber kündigte das Dienstverhältnis. Darauf hatte ich keinerlei Einfluss. Die beginnenden Tumorschmerzen ließen mir keinen Spielraum, darüber nachzudenken, ob ich mich operieren lasse. Was ich entscheiden konnte, war, wann und wo es mit den Therapien losging.

Mit Beginn der Chemotherapie war es damit aber auch vorbei. Ab dann gilt es nur noch, zu überleben. Entschieden wird durch andere. Sicherlich ist gerade dann soziale Zuwendung dringend nötig. Aber: die Zahl derer, die bereit und in der Lage sind, diese Zuwendung noch zu geben, ist verschwindend gering und in der Regel auf die nächsten Angehörigen und das Pflegepersonal beschränkt. Alle früheren guten Freunde verschwinden nach und nach. Sie geben sogar den telefonischen Kontakt auf.

Das System Krankenhaus ist noch längst nicht darauf eingestellt, sich neben dem Bemühen, die Probleme im Zusammenhang mit der akuten Erkrankung zu lösen, auch noch um die psychischen Befindlichkeiten zu kümmern. Dies zeigen die Schwierigkeiten der Psycho-Onkologie, überhaupt Eingang in Wissenschaft und Lehre, geschweige denn in den Klinikalltag zu finden. Deshalb gibt es auch nur in den wenigsten Fällen eine begleitende psychotherapeutische Unterstützung. Die setzt leider erst nach Abschluss der onkologischen Behandlung ein als Reha-Maßnahme. Dann aber ist es meist zu spät, weil wertvolle Zeit ungenutzt verstrich. Oft genug haben sich irreversible psychische Schäden deshalb manifestiert, weil der Schwerkranke mit seinen Ängsten, Depressionen, Albträumen und allen anderen bedrückenden Gedanken und Gefühlen sich selbst überlassen blieb.

Es ist deshalb eine unabweisbare Forderung, die Erkenntnisse der Psycho-Onkologie und der Psycho-Therapie begleitend einzusetzen und einen Schwerkranken auf dem dornenreichen, Kräfte zehrenden Weg durch Operationen, Transplantationen oder Chemotherapien haut- und zeitnah zu begleiten.

Denn in Zeiten, in denen man zwischen Sein und Nicht-Sein hin und her geworfen wird, drängt sich die Frage auf: was wird aus mir, wenn ich es nicht mehr schaffe ? Wie ist das mit dem Sterben ? Was bleibt ?
Und alle Beteiligten fühlen durchaus, dass da noch etwas ist, das in Mitleidenschaft gezogen wird: die Seele.

Das ist etwas ganz anderes, als eine Störung des Denkens, Fühlens, Erlebens und Handelns. Das geht viel tiefer, bleibt nicht nur im Kopf, sondern erfasst auch das Herz. Doch niemand hat sich bis jetzt ernsthaft die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, was konkret zu tun ist, um dem Betroffenen zu helfen. Viele wollen ja helfen, aber sie wissen nicht, wie. Offenbar sieht man auch hier vor lauter Bäumen den Wald nicht.

Wenn die Seele leidet, ist Seelsorge, die cura animarum, erforderlich. Damit meine ich aber nicht das, was gemeinhin zur sog. Praktischen Theologie gerechnet wird: Trost spenden, Erkennung und Vergebung der Sünden und die Bemühung, den im Glauben unsicher gewordenen Menschen wieder auf den richtigen Weg zu bringen: Das kann durchaus hilfreich sein, ist aber zu wenig.

Bei religiös erzogenen und gläubig denkenden und empfindenden Menschen mag das reichen. Bei Atheisten oder Menschen, die den Glauben verloren haben, gehen solche Bemühungen zumeist ins Leere. Da muss noch etwas hinzukommen. Aber was konkret ? Psychotherapie vielleicht ? Die kann heute in aller Regel Leiden wie Depressionen, Angststörungen oder Zwangserkrankungen gut und erfolgreich behandeln.

Aber wer einmal den schweren Gang von der Diagnose Krebs durch die Hölle einer Chemo-Therapie mit Hochdosis-Chemo, Stammzell-Transplantation, Isolierstation, Zig Bluttransfusionen und zum Abschluss noch unendlich belastenden Bestrahlungen gegangen ist, weiß, dass es noch etwas anderes geben muss.

Seele