Angst und Verlust

Wenn nun so eine schwere Krankheit wie der Krebs über uns hereinbricht, führt das in aller Regel zu einer Veränderung unseres Wesens. Der Patient tritt uns als ein anderer Mensch entgegen. Er ist nicht mehr der, der er zuvor war. Er ist anders, grüblerischer, empfindlicher, aggressiver. Das macht seiner Umgebung, vor allem seinen nächsten Angehörigen oft genug Angst, weil sie ihn so nicht kennen gelernt haben. Und, was noch schlimmer ist, er kennt sich selbst nicht mehr. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass ganz andere Reaktionen, Emotionen, Gedanken und Gefühle in ihm ablaufen, als das früher der Fall war.

Diese Erkenntnisse stellen sich meist allmählich und vor allem dann ein, wenn er plötzlich Unverständnis und vielleicht sogar Ablehnung seitens seiner Umgebung erfährt. Das verwirrt und verletzt ihn natürlich, weil er das nicht gewohnt ist und weil er es auch in seiner Situation nicht erwartet.
Aber niemand ist bis jetzt auf die Idee gekommen, dass hier zunächst einmal keine Krankheit zu behandeln ist, sondern ein Abschied verkraftet werden muss. Es heißt, Abschied zu nehmen von dem bisherigen Leben und geht im Grund genommen um Trauer. Trauer ist als Phänomen ja durchaus bekannt. Man kennt auch ziemlich genau die einzelnen Phasen, in denen der Trauerprozess abläuft.

Man weiß, dass es sich hierbei um ein zunächst psychisches und dann physisches Problem im menschlichen Dasein handelt. Trauer spüren wir, wenn wir einen Verlust von etwas hinzunehmen haben, das uns sehr viel bedeutet, wofür wir lange gekämpft oder was für unser Leben unverzichtbar, also existenziell wichtig ist. Das kann Verlust durch vorübergehende oder auch endgültige zeitliche oder räumliche Trennung, aber auch durch Zurückweisung oder Ablehnung durch andere Menschen sein. Das empfinden wir als bedrückend, beängstigend und schmerzlich.
Zunächst fällt es schwer, überhaupt zu begreifen, dass und was etwas passiert ist. Man hält es für nicht möglich, dass es einen selbst erwischt hat und will es auch nicht wahrhaben. Doch die folgende Entwicklung, nicht zuletzt auch die ärztlichen Rettungsmaßnahmen machen bewusst, dass es tatsächlich so ist. Das tut unendlich weh, löst Verzweiflung, Vereinsamung, Angst und Selbstzweifel aus.
Das ist das bekannte Bild derer, die beispielsweise den Tod eines lieben Menschen zu verkraften haben.

Man kennt auch die Therapieansätze, um das Leid zu erleichtern, zu verarbeiten und letztlich auch zu überwinden. Ich frage mich nur, weshalb man den Krebspatienten nicht in gleicher Weise bei ihrer Trauerarbeit zur Seite steht. Denn bei den Trauernden, die einen lieben Menschen verloren haben, geht das Leben mit ihnen in nahezu gewohnter Weise weiter. Sie trauern um einen Menschen, sind aber immer noch Teil des Lebens, auch wenn sie sich zunächst einmal zurückziehen und sich abschotten. Der an Krebs Erkrankte erlebt dies anders. Er erlebt eine alles überschattende Sinnlosigkeit. Er kann gar nicht an dem Leben um ihn herum teilnehmen oder sich davon treiben lassen. Er hat auch keinen Raum oder einen bestimmten Platz, wie beispielsweise ein Grab, an dem er sich seiner Trauer hingeben kann. Er trägt die Trauer in sich, weil er ja um sich selbst trauert. Deshalb bedarf er besonderer Fürsorge. Allein ist das nicht zu schaffen. Wohl dem, der sich auf seine Familie und seinen Glauben stützen kann!

Es mag merkwürdig klingen, aber wenn man es schafft, die Trauer umzupolen, hat man einen Schlüssel zur Bewältigung der Sinnentleerung seines Daseins in der Hand. Damit meine ich, dass man plötzlich seine Familie, seinen Partner, die Kinder als die eigentlich Leidtragenden erkennt und bedauert, die für jetzt und vielleicht auch in Zukunft auf die Stütze, die man ihnen bieten konnte, verzichten müssen. Sie finden nicht mehr die starke Schulter, an die sie sich anlehnen und an der sie sich wärmen konnten. Sie sind belastet durch die lange Therapiedauer, durch die Sorge, was wird mit ihrem kranken Ehemann und Vater?
Damit verlässt man den Zustand des Selbstmitleides.

In dieser Phase empfindet man sich als Opfer und bedauert sich ausschließlich selbst. Das ist zunächst eine völlig normale und durchaus positive Reaktion. Der amerikanische Psychologe Mark Leary von der Wake Forest University in Winston-Salem hat durch umfangreiche Tests mit Studenten herausgefunden, dass Menschen mit einem stark ausgeprägten Selbstbewusstsein kaum Selbstmitleid empfinden. Ihnen fehlt deshalb auch die Fähigkeit, sich selbst in arger Bedrängnis wie einen Freund, also freundlich zu behandeln. Wird aber aus diesem positiven Selbstmitleid ein chronischer Zustand der Larmoyanz, dann blockieren ich-bezogene Wehleidigkeit und Weinerlichkeit jede Form von Eigenaktivität.

Ohne Eigenaktivitäten gibt es keinen Fortschritt im Befinden allgemein und in der Rekonvaleszenz im Besonderen. Die Frage muss heißen: was kann ich jetzt noch oder wieder tun? Wem kann ich helfen? An wessen Schicksal kann ich Anteil nehmen? Woran kann ich arbeiten? Wie kann ich meinen Angehörigen die Angst um mein Schicksal nehmen?
Ich konnte zum Beispiel durch intensive Gespräche mit anderen Patienten und durch ehrliche Wiedergabe meiner Gefühle, Ängste und Hoffnungen, aber auch meiner Zuversicht behilflich sein, aber auch selbst Hilfe erleben.

Eine unvergessene Mitpatientin, Leiterin eines Kindergartens von Beruf, hat mich z.B. zur Herstellung von Zeichnungen motiviert und auch angeleitet. Das half mir, mich aus tiefer Mutlosigkeit befreien, die mich im Zusammenhang mit der Bestrahlungstherapie überfallen hatte. Der kleine Reiter auf dem Holzpferdchen, den sie selbst gebastelt hatte, bekam seinen Ehrenplatz in unserem Haus. Sie hat leider nicht lange überlebt. Meine Frau und ich haben in ihr eine wahre Freundin verloren. Das wurde uns anlässlich ihrer Beerdigung, zu der uns ihr Ehemann, ein Internist, auf ihren Wunsch eingeladen hatte, äußerst schmerzlich bewusst. Aber auch die Anteilnahme an ihrem Schicksal war und ist für mich ein wichtiger, wenn auch schwerer Schritt hin in ein halbwegs normales Leben, heraus aus dem Selbstmitleid, in dem man sich so gut suhlen kann!
Ein weiterer wichtiger Schritt in der Verarbeitung der Trauer besteht darin, eine neue Zukunftsvision zu entwickeln und sein Leben neu zu planen. Jeder Mensch hat seine Träume und geheimen Pläne, wie er sich das Leben einrichtet und welche Ziele er erreichen will. Dabei geht es nicht mehr und nicht weniger darum, für sich und die Familie ein Stück Sicherheit für die Zukunft und damit auch Glück und Zufriedenheit zu erkämpfen. Deshalb kommen Träume und Wünsche der Ehefrau und der Kinder hinzu und bilden ein Konglomerat. Alles das wird mit der Diagnose Krebs in Frage gestellt oder gar vernichtet.

Von dem scheinbar fest gefügten Grund einer bürgerlichen Existenz mit Aussichten auf weitere Verbesserung innerhalb eines einigermaßen tragfähigen sozialen Umfeldes geht es im Handumdrehen in unbekanntes, unwegsames Gelände mit Treibsand. Dort versinkt man, auch wenn man sich nicht bewegt. Das Selbstwertgefühl ist innerhalb von wenigen Minuten verloren gegangen. Selbstachtung und Eigenliebe sind verflogen. Jetzt herrschen Zorn und Trauer über die grenzenlose Ungerechtigkeit, die einem widerfahren ist. Warum ich, warum gerade ich, pocht und bohrt es im heißen Kopf. Das Herz rast und der Magen scheint sich auf die Größe eines Tennisballs zusammen zu ziehen. Dass Gerechtigkeit ein zentraler Begriff im menschlichen Leben ist, war mir durchaus bekannt.

Ich hatte mich im Rahmen meines Studiums ganz intensiv damit beschäftigt, weil das Suum Cuique, ein auf Platon (Politeia IV 433e) zurückgehender Gedanke eine der wichtigsten Grundlagen unseres Rechtssystems und Antriebskraft für die Bildung eines Staates ist. Schon die alten Ägypter sahen Sinn und Zweck eines Staates darin, unter den Menschen Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Platon verdeutlichte die Bedeutung dieser Gerechtigkeit für die menschliche Existenz an einem sehr überzeugenden Bild. Er erläuterte, die Gerechtigkeit sei für die Seele das, was die Gesundheit für den Leib bedeutet und die Ungerechtigkeit sei gleichbedeutend mit der Krankheit für den Leib.

Gerechtigkeit