Vom Beten

Wer wie ich die Grundlage seines Glaubens in dem sucht und findet, was uns dazu von Jesus Christus selbst überliefert ist, der kommt an Luk. 11, 1 – 4 nicht vorbei. Einer seiner Jünger bittet ihn, sie so beten zu lehren, wie Johannes es seinen Jüngern gelehrt hat. Und dann formuliert Jesus die sieben berühmten Sätze, die wir bis heute als Vater unser sprechen. Und an anderer Stelle gibt er auch noch eine Anleitung zum richtigen Beten. „Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen. Und plappert nicht so viel“ (Matt. 6, 7 ff). Beim Beten geht es also um ein Zwiegespräch zwischen mir und dem Vater im Himmel. Das soll im Kämmerlein hinter verschlossenen Türen geschehen. Und wir brauchen nicht viel Worte zu machen, weil der Vater schon weiß, worum wir bitten, bevor wir es ausgesprochen haben. Und: Jesus hat in dem Zusammenhang auch immer wieder darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, den Vater immer wieder und mit Nachdruck zu bitten (so im Gleichnis vom ungerechten Richter und der Witwe Luk. 18, 1-8, aber auch in Matt. 6, 5-13).

Neben vielen anderen Gelegenheiten, in denen Jesus immer zwischen anstrengender Arbeit eine Auszeit zum Beten in der Einsamkeit suchte (Luk. 5, 15-16: Er zog sich aber zurück in die Wüste und betete; Mark. 1, 35 Und am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort; Matt. 14, 23: Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten; Luk. 6, 12 – 13: Und es begab sich zu der Zeit, dass er auf einen Berg ging, um zu beten; und er blieb die Nacht über im Gebet zu Gott ist ein Ereignis wegen seiner Intensität und Verzweiflung prägend für alle Christen: das Gebet Jesu im Garten Gethsemane vor seiner Verhaftung (Matt. 26. 36 – 44).

In der größten Not, den Tod vor Augen, betet Jesus zu seinem Vater. Im Gegensatz zu den zuvor genannten Anlässen, in denen er sich Kraft für seinen Einsatz für andere Menschen holt, geht es hier um ihn selbst. Dabei lässt er erkennen, wie sehr er nur ein Mensch ist und auch als solcher fühlt und verzweifelt, den Machtspielchen der Welt ohnmächtig ausgeliefert. Das Gefühl kennen die meisten von uns nur zu gut. Not lehrt beten, sagt ja auch das Sprichwort. Deshalb rührt es uns auch so an. Man muss Mitleid haben mit diesem armen, gequälten Mann. Und, das gebe ich durchaus auch zu, ich verstehe als Vater dreier Töchter seinen Vater nicht, der ihm in dieser Situation nicht hilft. Dass ihn dieser Vater nicht leiden lässt, weil er eine sadistische Freude daran findet, dass sich dieser, sein geliebter Sohn, in existentieller Not befindet, ist uns klar. Jesus ist in dieser Situation dazu ausersehen, als Märtyrer beispielhaft den Weg zu Ende zu gehen, der ihm gerade als Messias, kommender König des zu errichtenden Gottesreiches auf Erden und Gottessohn vorherbestimmt war. Ich gebe zu, dass es mir nicht leichtgefallen ist, dies für mich zu akzeptieren. Etwas hinnehmen zu müssen ohne die Möglichkeit, selbst noch darauf einwirken zu können, das entsprach so ganz und gar nicht meiner Veranlagung. Ein „Das geht nicht“ fand sich in meinem Wortschatz nicht. Es musste immer eine Alternative geben. Die galt es zu finden und die Dinge, so schlecht sie auch standen, umzudrehen. Umso größer war die Überraschung, als ich plötzlich die Diagnose Krebs verkraften musste, gerade in einer Phase beruflicher Höhenflüge. Und die Panik, als ich über die geringen Erfolgschancen einer Therapie informiert wurde. Und dann die Wut über die Schwäche meines Körpers.

Es hat auch lange gedauert, bis ich verstand, warum das Gebet im Garten Gethsemane unerhört blieb, dass es Entwicklungen gibt, die wir Menschen einfach akzeptieren müssen, auch wenn wir nicht verstehen, warum das so ist. Und vor allem, dass man selbst vergeblich betet und auch alle Angehörigen und Unterstützer mit ihren Gebeten scheitern. Das heißt, der von allen erhoffte und erwünschte Erfolg stellt sich -zuerst jedenfalls- nicht ein. Dann sind Verzweiflung, Enttäuschung und Ohnmachtsgefühl riesig. Und sehr oft stellen sich dann sehr schmerzvolle Fragen nach Sinn und Zweck des Betens, was bringt das Beten überhaupt ? Und noch viel grundsätzlicher geht es darum, zu hinterfragen, was das Beten seinem Wesen nach und wer das Gegenüber ist, zu dem ich bete. Es klingt angesichts der der bitteren Umstände, die wir gerade jetzt in Zeiten einer allumfassenden Bedrohung durch ein neues Virus mit vielen Schwerkranken und Toten wenig tröstlich, wenn vor allem von Seiten der obersten Kirchenleitung, aber auch der Pfarrer und Priester daran appelliert wird, für und mit von Krankheit und Tod, Einsamkeit und Verzweiflung Betroffene zu beten. Fürbittengebete sind in großer Zahl im Internet zu lesen. Alles, was wir nun über das Beten von Jesus selbst hören, heißt: bittet. Wir sollen Gott bitten und das immer wieder und sogar unverschämt fordernd. Und wir sollen das mit wenigen Worten tun. Aber was mir noch viel wichtiger erscheint, ist der Ort, an wir dies tun sollen: im Kämmerlein, allein und mit hinter uns verschlossener Tür. Jesus entflieht für seine Gebete dem Trubel. Er sucht Einsamkeit, auf dem Berg, in der Wüste oder an sonst einem einsamen Ort. Warum nur ? Nun, der Grund dafür liegt für mich auf der Hand: diese Art des Gebetes fordert die volle Konzentration. Da darf es keine Störungen geben, die nur ablenken. Unsere Gedanken, unser Fühlen und unser ganzes Ich muss in diesen besonderen Momenten vollkommen fokussiert sein auf den Adressaten unserer Bitten.

Es ist für viele Menschen schwer, sich in der Stille zu ertragen. So ganz ohne IPhone, ohne Geräusche und Stress ist man plötzlich mit sich allein, mit seinen Sorgen, Ängsten, Nöten und auch seiner Wut. Das ist manchmal ganz schön schmerzhaft, weil man in diesen Augenblicken einmal sehr ehrlich zu sich selber ist. Da kann man sich und anderen nichts mehr vorspielen. Das aber ist die Vorbedingung, die Jesus von uns verlangt, wenn ein Gebet wirklich ein Zwiegespräch werden soll. Wer oder was ist der Adressat unserer Bitten ? Es ist ja zunächst niemand anwesend außer uns selbst. Sind wir dann also selbst der Empfänger ? Dann würden wir ja nur Selbstgespräche führen. Dazu müssten wir uns nicht ins verschlossene Kämmerlein, in die Wüste oder auf einen Berg begeben. Steckt also doch mehr dahinter ? Davon bin ich überzeugt. Wer so intensiv mit allem, was er hat und was er ist, in sich selbst verharrt, der gerät in einen besonderen Gemütszustand. Er ist ganz und gar bei sich und er gesteht sich selbst seine tiefsten Sorgen, Nöte und Wünsche ein. Und er ist beseelt von dem Wunsch, dies einmal loszuwerden, weil es ihn bedrückt. Und weil er sich Erleichterung und Hilfe zugleich wünscht. In diesem Zustand der Autosuggestion, der selbst-induzierten Beeinflussung unserer Psyche, von manchen neuro-linguistisches Programmieren (NLP) genannt, eröffnen sich oft ganz überraschende Erkenntnisse und Kräfte.

Von Autosuggestion oder NLP wusste Jesu sicher noch nichts. Aber er wusste, dass aus der Tiefe unseres Gemüts, wie es Immanuel Kant bezeichnet, Erkenntnisse in uns aufsteigen, die schon ewige Zeiten als a-priori-Erkenntnisse in uns angelegt sind, die uns Wege erkennen und Kräfte freisetzen lassen, die die gewünschten Ziele erreichbar erscheinen lassen. Wir spüren dann zu unserer großen Überraschung, dass solch geheimnisvolle Energien in uns vorhanden sind, dass wir ein kleiner und vollständiger Kosmos inmitten des Universums sind. Völlig neue Perspektiven tun sich auf. Das ist mehr als das Ergebnis einer Meditation, die wir zur Selbstfindung vornehmen. Das durfte ich erfahren, als ich buchstäblich zwischen Leben und Tod hing. Wenn man so tief in sich versunken ist, begegnet man seiner Seele. Dieser besondere Stoff, von dem wir so vollkommen durchdrungen und auch beherrscht sind, gerät ganz plötzlich ins Schwingen. Wir spüren eine innere Wärme und Zufriedenheit in uns aufsteigen. In unserem Körper, dieser bloßen Hülle, wird die Kraft erfahrbar, die hinter aller Materie steht, die die Atomteilchen in Bewegung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält.

Urgrund aller Materie ist ein bewusster, intelligenter Geist (Max Planck in: Die Quantenphysik). Er hat die Entstehung des Universums geplant und nach den Regeln der Vernunft geleitet und begleitet. Der englische Physiker Paul Dirac, der 1933 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde, hat dies so beschrieben: „Gott ist ein höchst genialer Mathematiker. Er hat das Universum nach tiefgründigen und feinsinnigen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut.“ Das klingt aus dem Mund eines überzeugten Atheisten schon sehr überraschend, aber umso überzeugender. Da wir aber Teil des Universums und selbst ein kleiner Kosmos sind, gilt das auch für jeden Menschen individuell. Diesen bewussten und intelligenten Geist nenne ich Gott. Darin fühle ich mich durch die vielen Aussagen namhafter weiterer Naturwissenschaftler bestärkt. So haben sich zum Beispiel auch die Nobelpreisträger Wolfgang Pauli, geb. 25.04.1900 in Wien, gest. 15.12.1958 in Zürich, Nobelpreis für Physik 1945 und Werner Heisenberg, geb. 05.12.1901 in Würzburg, gest. 01.02.1976 in München darüber unterhalten, ob Heisenberg eigentlich an einen persönlichen Gott glaubt. Auf diese Frage fragt Heisenberg zurück:“ Kannst du, oder kann man der zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens, an der ja nicht zu zweifeln ist, so unmittelbar gegenüber treten, mit ihr so in Verbindung treten, wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist ? Ich verwende hier ausdrücklich das so schwer deutbare Wort , um nicht missverstanden zu werden. Wenn du so fragst, würde ich mit Ja antworten (Heisenberg, Positivismus, Methaphysik und Religion 1952, S. 253). Und der Münchner Physiker und Schüler Heisenbergs, Hans-Peter Dürr sagt:“ Du kannst nicht von Gott reden, weil Gott eigentlich das Ganze ist. Und wenn er das Ganze ist, dann schließt es Dich mit ein“. Er schließt uns ein, ist in uns, ist ein wichtiger Teil unserer Selbst. Und ich kann deshalb auch mit ihm sprechen. Unser Gebet ist also ein richtiges Zwiegespräch unseres Ichs mit diesem intelligenten Geist, der hinter jeder unserer Körperzellen steckt, der sie bewegt und sie sich erneuern lässt. Und das bedeutet Leben. Das ist die Kraft, die uns bewegt, seit wir von unserer Mutter geboren wurden bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir unser irdisches Leben beenden. Dahinter steht der Geist, der mit der Ausgießung zu Pfingsten über, auf und in uns gekommen ist. Die Griechen nannten das Psyche, die Römer Animus. Ich nenne es mit vielen anderen Seele. Es kann aber auch sein, dass der Geist/Gott die ständige Erneuerung unserer Körperzellen aus uns unerfindlichen Gründen blockiert oder auf Abwege leitet. Dann bedeutet das Krankheit.

Die Wissenschaftler können zwar inzwischen viele Arten der Erkrankung diagnostizieren, wissen aber oft nicht, warum sie uns heimsucht, gerade uns, die wir uns als Gute fühlen und nicht den bösen Nachbarn, dem Gottes Gebote völlig gleichgültig sind. Jesus antwortet auf die Frage, ob die Sünde der Eltern die Krankheit eines Kindes von Geburt an verursacht, mit einem klaren Nein. Aber warum dann das große Leid für Kind und seine Eltern? Weil an ihm die Werke Gottes offenbar werden sollen (Joh. 9, 3), heißt die überraschende Antwort. Da hätte ich mir schon etwas Nachvollziehbareres gewünscht. Denn worin nun aber die Werke Gottes bestehen sollen, ist für uns kaum oder gar nicht zu erkennen. Kann Krankheit sinnvoll sein ? Doch wohl nicht, wenn sie zum Tode führt, oder ? Eine Hilfestellung bietet mir Psalm 90. Darin betet der Psalmist: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen; auf dass wir klug werden. Was meint er damit ?

Er gibt ja nur wieder, was wir alle wissen: wir müssen alle sterben, unabhängig von Hautfarbe, Stand, Bildung, Armut oder Reichtum. Und obwohl wir das wissen, täuschen wir uns darüber hinweg, tun wir so, als sei dies nur eine in ferner Zukunft lauernde Gefahr. Gegen diese Schwäche unseres Geistes betet der Psalmist an. Wir brauchen einen Anleitung dafür, wie wir dieser Schwäche nicht anheimfallen. Je früher wir uns dessen bewusst sind und je früher wir uns also auf unser unentrinnbares Ende einstellen, desto besser. Dass wir uns das nur ungern vorstellen, wenn wir jung sind und das Leben noch vor uns haben, wie man so gerne sagt, ist verständlich. Und dennoch kann es sein, dass wir nur ein kurzes irdisches Leben haben. So müssen wir das sehen, auch wenn uns das schwer fällt. Das lässt sich umso leichter sagen von denen, die schon viele Geburtstage haben feiern können. Aber es hilft auch dies: Wir fühlen im tiefen Gespräch mit Gott, dass er in uns ist, ein Teil von uns, als eine Kraft, die alles an und in uns durch ihre Schwingungen zusammenhält. Der hinter dieser Kraft stehende Geist ist unvergänglich, denn Geist kann nicht sterben. Und das ist es, was Christen die unsterbliche Seele nennen. Wenn unsere Seele aber unsterblich ist, dann darf es uns nicht bange sein vor dem Tod. Den haben wir nicht zu fürchten. Der Körper als materielle Hülle zerfällt, die Seele aber bleibt. Warum sollen wir aber klug werden, wenn wir an unser irdisches Ende denken ?

Die Antwort ist für mich ganz einfach zu finden. Wir sollen uns jeden Tag so verhalten, als wäre morgen unser Todestag. Das kann uns aber doch nur lähmen, uns unseren Lebenswillen nehmen, werden manche von uns sagen. Ich sehe das eher als Ansporn, jeden Tag unseres Lebens bewusst zu leben, uns gemäß unserer Verantwortung für unsere Angehörigen, Ehepartner, Kinder, unsere Umwelt zu verhalten und für sie alle unsere Kräfte zu mobilisieren. Dazu gehört auch, unsere geistigen und körperlichen Fähigkeiten und Talente auszubauen und voll auszuschöpfen. Sie sind ein persönliches Geschenk Gottes und ein unverdienter Schatz, mit dem wir nach besten Kräften wuchern sollen. Da halte ich es mit Oscar Wilde, der sagt: „Ziel des Lebens ist Selbstentwicklung“. Von Selbstverwirklichung, wie sie uns heute von allen Seiten als wichtigstes Ziel propagiert wird, ist bei ihm keine Rede. Und Martin Buber merkt dazu an: „Du kannst Dein Leben nicht verlängern, nur vertiefen. Nicht dem Leben mehr Jahre, sondern den Jahren mehr Leben geben“. Kann man es schöner sagen ?